Die Gesellschaft

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Kulturspiegel – Barbarenspiegel

Dümmer
leuchten deine Augen nie,
als wenn du
vor den großen, geistgewordenen
Gebäuden dieser fremden Völker
– stark und schwach zu
gleichen Teilen –
staunst und lächelst schon
bei den Gedanken
an das Feuer,
du inmitten, goldbeladen,
mit dem Schwert ihr
Blut zerteilend
und dich selbst
im Siegesrausche
tödlicher als nur
verwundest.

Klüger
fürchten ihre Augen nie,
als wenn sie
durch die kleinen, erdgebliebenen
Hütten jener fremden Meute
– schwach und stark zu
gleichen Teilen –
sehn und trauern schon
bei den Gedanken
an das Wasser,
sie inmitten, fluchbeladen,
mit der Feder
Gold verteilend
und sich selbst
im Weltenende
lebhafter als nur
vererben.

(10.10.1994)
 



Herde im Schafspelz

Ein Wolf ist ehrlich:
er ist gefährlich.
Schafe sind es, die mich schrecken:
kleine Zähne, keine Klauen -
womit sie sich gut verstecken.
Fürchte das, was sie verdauen!

(9.10.1995)
 



Pfandleihe

Leih mir dein Brot
ich weiß du hast es
und brauchst es doch nicht
nicht noch nicht mehr
wie satt du bist
und glücklich
ich aber hungere
und bitte dich
leih mir dein Brot
ich leide Not
du weißt es
und siehst nicht
ich aber verstehe
das Brot ist deins
ich habe kein Recht
aber Hunger
ich stehle dir nichts
leih es mir
ich kann es bezahlen
ich zahle mit Zinsen
dir soll alles gehören
was ich vererbe
nimm mein Grab
laß die Erde pflügen
und säe dort Korn
es wird reich tragen
ich dünge es

(7.-8.12.1995)
 



Beute

Die Vögel flogen im Wald spazieren,
sie waren possierlich und froh.
Auf ersteres reimt sich leicht tranchieren,
auf letzteres einfach roh. 

Die Vögel sah man auf Zweigen hupfen,
sie pfiffen und sangen dabei.
Wir sind Ästheten und sagen rupfen,
zur Nachspeise sagen wir Ei.

Die Vögel wollten nur Körner picken,
sie kamen zum Füttern ganz nah.
Zum Vögeln sagen wir heimlich ficken,
zum Fressen Geschäfte, nicht wahr?

(26.9.1990)
 



Potential

Ich kannte einen, der einen kannte,
und der hatte auch noch
andre Verwandte,
die schickten mich zu
Onkel und Tante,
des Vetters 3. Grades Bekannte,
der wiederum mir Sie empfahl.
Die Sache ist an sich banal,
der Freund des Partners
vom Schwestergemahl –
Sie wissen, die Sache
im 4. Quartal ...
da müssen wir einfach, so ganz
kollegial – diskret natürlich;
dann machen Sie mal!

(15.6.1996)
 



Wichtig

Nebenbei (am Rande gesprochen) gesagt (doch das ist nebensächlich)
sind (kaum sichtbar, denn auch nur minimal ausschlaggebend) die
(beiläufig erwähnten) (zweitrangigen) Marginalien (von geringer
Relevanz) (obendrein (was belanglos ist ...) gegenstandslos)
lediglich (nicht entscheidend) (gleichwohl irrelevant) (nichtssagend
(nicht einmal einigermaßen), daher bedeutungslos) geringfügig (!)
(nicht als allein (deswegen fast nicht) ausnahmslos unmaßgeblich
(ohnehin wertlos) ganz und gar unwesentlich) wichtig.

(5.4.1989)
 



Im Zweifel

Wir könnten uns irren.
Wir müssen nicht glauben,
was wir zu sehen verstehen,
was wir zu hören ertragen,
was wir zu antworten sagen.

Der Unsinn der andern
beruhigt uns, wir Irren,
haltlos im Glauben, wir
wären verlassen, wenn
sie uns nicht foppten, so
Blinde wie wir.

(2.1.1998) 
 



Standpunktbestimmung

Wo stehen wir eigentlich,
wenn wir sitzen?
Kann uns der neue
Schwerpunkt denn nützen?
Wenn wir statt dessen etwas lägen?
Wie rollt es sich eigentlich
auf Schrägen?
Oder wenn wir uns
fallen ließen –
oder nur rutschen,
oder fließen?
Um auf den Punkt zu kommen,
der jetzt ein wenig verschwommen:
in Wahrheit –
und Schluß mit den Witzen –
können wir grade noch gehen,
denn Du hast einen sitzen,
und ich hab einen stehen.

(18.4.1997)
 



Eile in Weile!

Ich komme heute, ich komme morgen,
ich werde dazu mir etwas borgen,
ich werde zu Fuß gehn, werde fliegen,
komm schnell und bleibe vielleicht auch liegen,
ich werde eilen, euch bald zu sehen,
zuweilen werde ich langsam gehen,
ich werde fahren in schnellem Wagen,
ganz gerne lasse ich mich auch tragen,
ich könnte schwimmen, mich ziehen lassen,
aus lauter Ängsten, uns zu verpassen,
ich könnte hüpfen, ich könnte springen,
es wird dann, werdet ihr sehen, gelingen,
den eigenen Schatten zu überholen,
vorausgesetzt, die Uhr wird gestohlen,
nach der ich mich immer richte,
wozu ich alle, die Zeit haben, verpflichte!
Herumzujagen ist nur zu ertragen,
wenn man sich enthält,
zu tuen und lassen,
was andern gefällt:
erröten, erblassen
vor Zeit und vor Geld!

(31.5.-1.6.1997)
 



Alltag

Ein Morgen wie aus keinen Buch:
das Wetter weder schlecht noch schön,
die Leser weder frisch noch matt.
Wo das geschehn?

Ein Buch hätt anders wohl erzählt:
die Arbeit spannend nicht noch flau,
der Mittag ist nicht Fleisch noch Fisch.
Wer rät genau?

Ein Buch hält anderes bereit:
der Abend ist nicht neu noch alt,
das Lächeln weder warm noch kühl.
Zu ungestalt?

Ein Buch wär niemals so profan:
die Nacht ist weder schwarz noch licht –
Kein Buch war je so arm und reich.
Wer weiß das nicht?

(11.1.-20.3.1990) 
 



Ährenlese

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(8.+9.8.1986)
 



Einfach versetzt

Wann je lachte,
wenn ich denke,
ich, an dich
und deine Taten,
mir, wenn machte
ich, Gedanken,
laß, was täte,
ich, mich raten!

(Kaum je.)

(30.9.1995)
 



Aus der Truhe des Händlers

Die schönen Dinge kann niemand kaufen!
Laß sehen, Händler, was schenkst du uns?
               Für mich die Weine,
               für dich die Öle.
Die Menge sieht schon zu uns hinüber.
Wir blicken beide uns an und lachen.

Wer könnte zahlen für feinste Ware?
Verschenke, Händler, was bietest du uns?
               Für mich die Früchte,
               für dich Gewürze.
Die Leute kommen zu uns gelaufen.
Wir reichen Hände dem Unsern, lachen.

Wer will die schönsten der Güter kaufen?
Beschenke, Händler, wer sie bewundert!
               Für mich den Goldstoff,
               für dich Juwelen.
Die Menschen stehen um uns und staunen.
Wir flüstern manches ins Ohr und lachen.

Denn niemand kaufe die Kostbarkeiten!
Der Händler gibt sie von selber her!
               Für mich das Leben,
               für dich das Licht.
Die andern wollen wie wir nun handeln.
Wir halten Unser im Arm und lachen.

(5.11.1989)
 



Pour un Ami

Mets à droit
femme de foi,
gauche partie
des amis,
et le Dieu
au milieux!

(2. Zeile statt „femme“ auch „homme“, je nachdem)

(16.10.1988)
 



Alles und nichts

Niemand hat alles,
keiner hat nichts,
keinem entfall es!
Niemand versprichts,
alles zu fassen,
allem zu fehln.
Keiner soll lassen,
jeder sich quäln,
jedem gefall es,
prunkvoll wie schlicht:
Keiner ist alles,
niemand ist nichts!

(10.12.1994)
 

 


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