Das Oldenburger Wunderhorn

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Das Südbahn-Hindernis    Getöne um die Tönebank    Eislauf und Oldenburger Identität


 Das Südbahn-Hindernis
 

in der Bildmitte, darauf (noch mit Zügen) das Gelände des ehemaligen Verschiebebahnhofs. Links der geraden bis zum Oldenburger Bahnhof laufenden Bahnlinie liegt der Stadtteil Bümmerstede, rechts Krusenbusch, vorne quer der Sprungweg. Foto vmtl. 1993, aus: Franken/Kramp: Kreyenbrück und Bümmerstede, Oldenburger Ansichten, S. 35. Seitenverkehrt abgedruckt, hier korrigiert von Martin Teller.

Unter dem Titel „Krusenbusch soll leichter erreichbar sein, Baudezernent Frank-Egon Pantel stellt der CDU Planungen für den Stadtsüden vor“ enthielt ein am 5.6.2003 in der Nordwest-Zeitung erschienener Artikel die geäußerte Absicht, den Damm der Bahn nach Osnabrück verkehrsdurchlässiger zu machen. U.a. heißt es: „[...] Die scharfe Trennung der Stadtteile Bümmerstede und Kreyenbrück von Krusenbusch soll beseitigt werden. ‚Ich halte es für ein Unding, Stadtteile mit der Axt so zu teilen’, sagte Pantel unter Hinweis auf die dort verlaufende Bahntrasse. Man müsse prüfen, wo eine Über- oder Unterquerung möglich sei. [...]“ Darauf bezugnehmend schrieb ich mit Betreff „Verkehrsplanung Bümmerstede-Krusenbusch“ am 16.7.2003 folgenden Brief an Dr. Pantel:

Am 5. Juni erschien in der NWZ ein Artikel, worin Ihre Planungen für den Stadtsüden vorgestellt wurden. Aus persönlichen Gründen komme ich erst jetzt dazu, Sie nachdrücklich in Ihrem Bemühen zu bestärken, die vom Bahnkörper verursachte Trennung der Stadtteile Bümmerstede/Kreyenbrück und Krusenbusch abzumildern. An der hiesigen Universität erforsche ich die alte und beobachte daher mit Interesse auch die neuere Siedlungsgeschichte der Stadt, und schließlich bin ich als Bümmersteder auch ein betroffener Bürger. Als solcher wünsche ich mir schon seit langem wegeverkürzende Verbindungen durch den heutzutage tatsächlich abriegelnd wirkenden Bahnkörper.

Die südlichen Stadtteile sind allerdings nicht – wie Sie zitiert werden – nachträglich „mit der Axt“ getrennt worden, sondern die Längsabschließung ist das Ergebnis weitgehend organischer Entwicklung. Hier hat man nicht quasi von einem Tag auf den anderen mehrere lange miteinander verwobene Stadtteile unterbrochen, vielmehr existierte östlich der Gleise noch gar keine nennenswerte Besiedlung, als die Bahn gebaut wurde.
Als älteste Querverbindungen bestanden nur der Sprungweg und die heutige Holler Landstraße. Im frühen 19. Jahrhundert kamen noch Bümmersteder/Tweelbäker Tredde, die heutige Klingenbergstraße und die Bremer Heerstraße als durchlaufende Verbindungen hinzu. Wirklich abgeschnürt wurden 1875 neben einigen unbedeutenden Feldwegen also – angesichts des Bahnübergangs Bremer Heerstraße – nur Klingenbergstraße und Tredde, die aber lediglich in weithin unbesiedelte Wiesen- und Moorlandschaften führten. Die spätere dortige Bebauung hat sich an den i.d.R. älteren Bahnkörper angepaßt. Bekanntlich war das Großherzogtum erst vergleichsweise spät zu einer eigenen Eisenbahn gekommen. Die hier verlaufende „Südbahn“ bildete die Hauptverbindung ins Ruhrgebiet und damit einen wesentlichen Motor der Industrialisierung und der Agrarmodernisierung Oldenburgs. Insofern ist der Damm durchaus charakteristisch für die südliche Stadtentwicklung und für das ganze Land Oldenburg geradezu ein Denkmal der Kulturlandschaft.

Angesichts seines historischen Wertes, der (durchaus positiv zu sehenden) stadtteilgliedernden Wirkung als „grünes Band“, der seitlichen Ausdehnung, der Eigentumsverhältnisse, der mittlerweile darauf befindlichen Biotope, der randlich laufenden Bahnlinie und der hohen potentiellen Kosten verbietet es sich natürlich, den massiven Damm stellenweise abzutragen, aber das ist auch gar nicht nötig. Nützliche Übergänge, die Sie ins Gespräch gebracht haben, können durchaus anderweitig erreicht werden. Nach der Lage der umgebenden Straßen kommen dafür sinnvollerweise nur drei Stellen in Frage:
1. Höhe Klingenbergstraße. Hier war vor Jahren schon ein Durchstoß im Gespräch, der sich aber nicht durchsetzen ließ, weil die Anwohner der Klingenbergstraße stärkeren Durchgangsverkehr befürchteten; nicht zuletzt, weil sich dort zwei Grundschulen befinden. Dieses Argument ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Das Problem ließe sich entschärfen, wenn der Tunnel mit einer Sperre für den Autoverkehr versehen würde, die eventuell nur für Einsatz- und Rettungsfahrzeuge elektronisch vom Wagen aus absenkbar sein könnte. Ansonsten wäre die Unterquerung nur für Radfahrer und Fußgänger offen. Dennoch wäre zu überlegen, ob auf der Tweelbäker Ostseite die Gerhard-Stalling-Straße aus dem Gewerbegebiet anstatt wie derzeit geplant südlich des Hundezuchtvereins nicht besser direkt gegenüber der Klingenbergstraße an die Straße Am Schmeel geführt werden könnte, um einen direkten Anschluß zu bekommen.
2. Höhe Tredde. Weil hier der Bahndamm noch sehr niedrig ist, könnte eine Durchfahrt kostengünstig ebenerdig verlaufen, wie schon in früheren Zeiten, als dort noch die Schafe in ihre Moorweidegründe getrieben wurden. Gerade hierdurch würden die inzwischen von fast reinen Gewerbegebieten umgebenen Bewohner des Stadtteils Krusenbusch besser an die älteren Wohngebiete in Bümmerstede und Kreyenbrück angeschlossen.
3. Der im Stadtteilentwicklungsplan Krusenbusch/Tweelbäke enthaltene Fußgängerüberweg Höhe Goldregenweg müßte nicht ebenerdig verlaufen, sondern könnte als Wanderweg über den Bahnkörper geführt werden, wo er Anschuß an den parkähnlichen Biotop dort bekäme – der nebenbei gesagt etwas freundlicher hergerichtet werden könnte, auch ohne daß Flora und Fauna geschädigt würden (Beschilderungen, Tafeln, bessere Radwege). Es ist dies natürlich auch eine Frage des Eigentums an jenem Gelände oder zumindest des Entgegenkommens der Eigentümer.
Auf diese Weise wären mit ebenerdig-unterirdisch, ebenerdig-oberirdisch und vertikal-oberirdisch drei verschiedene Verbindungen zu unterschiedlichen Zwecken entstanden, die den landschaftlichen und städtebaulichen Reiz des Dammes nicht zerstören würden, sondern ihn durch erweitere Nutzungsmöglichkeiten sogar noch erhöhten. Es bleibt zu hoffen, daß sich Ihre Pläne angesichts stets knapper Kassen wenigstens sukzessive realisieren lassen.
 

Am 22.7. bedankte sich der Adressat für die Darstellung der historischen Genese des Stadtbereichs. Bei den weiteren Überlegungen zu Querungsmöglichkeiten wolle man die „nützlichen Anregungen“ berücksichtigen. – Der Erfolg einer Stadtteilzusammenführung beruht freilich auch auf dem Mitwirken bzw. der Zustimmung aller Anwohner, wobei unsere östlich vom Damm lebenden Mitbürger nicht mehr länger von der westlichen Infrastruktur abgehängt werden sollten. (Mit etwas Humor lassen sich hier fast Parallelen zur Bundespolitik ziehen...) Das Thema wird spätestens dann wieder aktuell, wenn Krusenbusch und Tweelbäke weiter ausgebaut werden.

Martin Teller, 16.7.2003, 8.1.2006

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Getöne um die Tönebank

Links: der Brunnen am Lefferseck (beim Schnittpunkt der Langen Straße und der Achternstraße in der Oldenburger Innenstadt). Aus: Oldenburg, Hrsg. Stadt Oldenburg, 2. verbesserte Auflage Oldenburg, o.J. (bis 1973), S. 11.

 

 

 

Unten: Planzeichnung der Tönebank (mit Wasserfontänen). Aus: Ein glänzender Auftritt, Modernisierung der Oldenburger Fußgängerzone (ein Info-Faltblatt), Hrsg. Stadt Oldenburg, o.J. (bis 2003).

Nachdem im Sommer 2005 – letztlich widerrufene – Pläne der Oldenburger Stadtverwaltung vorgestellt wurden, den 1968 geschaffenen Brunnen am Lefferseck für eine neue Skulptur namens „Tönebank“ zu beseitigen, welche v.a. als Arbeitstisch der Töpfer begriffen wurde, war die Reaktion der Bürger ganz überwiegend ablehnend. In der örtlichen Presse deutet ein Leserbriefschreiber den Namen für den ostfriesischen Raum als „Ladentisch“, kennt keine Keramikzusammenhänge und fragt: „Ist Oldenburg eine Töpferstadt, die das geschichtliche Bedürfnis hat, zur Erinnerung an die Töpfer ein ‚Denkmal’ aufzustellen?“ (Nordwest-Zeitung, Nr. 199, Freitag, 26.8.2005, Stadt Oldenburg, Leserforum: „Am Brunnen hängt eine ganze Menge Gefühl“. – Die hiesige Begriffserläuterung war ursprünglich als Leserbrief für die lokale Presse vorgesehen:)

Diese Namensdeutung kann aus oldenburgischer Sicht nur bestätigt werden: „Tönebank“ (sonst auch Toonbank oder Töönbank, von mittelniederdeutsch tôgen, tonen = zeigen) heißt der Ladentisch auch im Oldenburger Raum etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Vorher wurde so der transportable Verkaufstisch der reisenden Krämer und Kleintuchhändler bezeichnet, die dort und auf Borten dahinter ihre Waren ausbreiteten, wenn sie zu den Bauern auf die Diele kamen oder Märkte beschickten. Sicherlich wurde darüber auch Keramik verkauft, die bis zur Erfindung von Porzellan und Plastik große alltägliche Bedeutung besaß. Als Symbol historischen Handels würde eine solche Bank durchaus gerade in die Innenstadt passen, solange sie dem beliebten Brunnen nicht den Platz wegnimmt, in dessen Nähe sich schließlich schon im Spätmittelalter eine Brunnenanlage befunden hat. Unter dem umlaufenden Stichwort „Keramik“ würde ein entsprechend gestaltetes Kunstwerk aber besser im alten Töpferort Bornhorst aufgestellt. Solche Denkmäler könnten zur sinnvollen Verschönerung der eingemeindeten Dörfer und heutigen Vororte beitragen, die eine umfassende und kreative Stadtplanung genauso im Blick haben wird wie die Innenstadt.

Martin Teller, 12.10.2005

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Eislauf und Oldenburger Identität
 

Schlittschuhfahrende Oldenburger um 1980, auf der Alten Hunte am Schloßgarten. Aus: Oldenburg in Bildern und Geschichten, Hrsg. Stadt Oldenburg, zweite erweiterte und bearbeitete Auflage, Oldenburg 1985, S. 61.

Da nach Beendigung des Oldenburger Weihnachtsmarktes der Schloßplatz sinnvoll genutzt werden soll, ist im Winter 2005/06 darauf erstmals ein sogenanntes „Tiroler Dorf“ (Verkaufsbuden mit Alpentouristenfolklore) nebst einer kleinen Eisbahn errichtet worden. Die Idee an sich traf allgemein auf Zustimmung, kritisiert wurde aber v.a. die laute Beschallung mit Musik im Trachten- und Lederhosenstil und die drangvolle Enge auf der Bahn. Ein aus Tirol gebürtiger Oldenburg-Tourist machte in einem Leserbrief klar, daß die hier präsentierte „Folklore“ kaum noch etwas mit der Realität in seiner Heimat gemein hat, und endet mit der pikanten Feststellung: „Ich frage mich, ob ihr Nordlichter keine eigene Identität habt. Was hat ein Pseudo-Tiroler Dorf bei Euch zu suchen? (Nordwest-Zeitung, Nr. 5, Freitag, 6.1.2006, Stadt Oldenburg, Leserforum: „Der Elch-Gesang als störend wird empfunden.“)

„Natürlich haben wir eine eigene Identität, eine sehr klare sogar!“, möchte man gerade als Oldenburger spontan zurückrufen. Denn Oldenburg war immer für seinen ausgeprägten regionalen Eigensinn bekannt, der sich nicht zuletzt in zweimaliger Ablehnung der Verschmelzung des Landes Oldenburg mit dem Bundesland Niedersachsen äußerte (1956 und 1975, das Ergebnis von Volksbegehren und Volksentscheid wurde offiziell ignoriert). Feiern wir nicht regelmäßig Kramermarkt, halten unseren (anscheinend einzigen) Grafen Anton Günther in Ehren und begehen zünftig die Grünkohlsaison? Kennt nicht jeder und jede das Stadtwappen und vielleicht noch die Landesfarben (zur Erinnerung: Blau-Rot), wenn schon nicht mehr unsere „Nationalhymne“ (Heil dir o Oldenburg)? Ist man nicht besonders stolz auf den Lappan, den Schloßgarten und die Hunte, eben darauf, das beste zu sein, was einem passieren konnte: ein Oldenburger? Es ließen sich leicht noch mehr Kulturgüter und Errungenschaften aufzählen, was aber unnötig ist, denn echte oldenburgische Identität ist sich ihrer auch ohne große Detailkenntnisse bewußt – sollte man meinen.

Doch in Gegenwart eines Lautsprechers, der als singender Elch verkleidet direkt in Oldenburgs historischer Mitte alpenländisches Flair verbreiten soll, das nicht einmal mehr in der Ursprungsregion echt ist, wird man rasch stiller, zumal rufen bei der umgebenden Lautstärke ohnehin keinen Zweck hätte. Insgeheim stellen wir uns die Frage, ob wir vielleicht gedanklich die künstlichen Lederhosen aus- und die alten echten Holzschuhe wieder anziehen sollten, die hierzulande noch üblich waren, als Oldenburg und die restlichen deutschen Länder sich zu einem gemeinsamen Reich zusammengeschlossen hatten. Wir wissen, wer wir sein wollen und was uns zustände, aber wissen wir auch, wer wir sind und was wir verdienen? Was fordern wir Achtung ein, wenn unsere „Selbstachtung“ beispielsweise zuläßt, den Ministerpräsidenten einer Landesregierung, die Oldenburg (vor allem durch Aufhebung der Bezirksregierungen und die Folgen) konsequent ins Abseits stellt, nicht nur zum Kohlkönig zu küren (Welch ein Sakrileg!), sondern ihn sich auch noch ins goldene Buch der Stadt eintragen zu lassen, wozu uns doch niemand gezwungen hat?

Eine eigene Identität zu haben ohne ein hinlängliches Geschichtsbewußtsein – das geht gar nicht! Ohne ein rudimentäres Wissen von den geschichtlichen Zusammenhängen der eigenen Umgebung – wenn schon keine natürlich empfundene Sensibilität – kann man auch kein echtes Selbst-Bewußtsein für die lokalen Eigenarten und das Regionaltypische der Heimat haben oder entwickeln, die beide gerade in Zeiten der Globalisierung einen wichtigen Teil der persönlichen Verortung in der Welt ausmachen. Wenn man nicht weiß oder wissen will, auf welche Weise man geworden ist, wird man auch nie wissen, wer man eigentlich ist. Folglich vergeht man sich mit allerlei Mißgriffen an sich selbst, widerspricht so den eigenen Absichten und negiert eine originäre Identität.

Im Alpenraum scheinen sie weniger Probleme damit zu haben. Es wäre aufwendige soziologische, psychologische und historische Untersuchungen wert, um zu erfahren, woran das liegt. Vielleicht an einem besseren Geschichtsunterricht in den Schulen, an höherer Wertschätzung von Geschichte innerhalb der dortigen Gesellschaft, an tiefgründigerer Allgemeinbildung (siehe Ergebnisse des PISA-Schulvergleichs), an höherer Freude an selbstgestellten Lernaufgaben, an größerer Neugier auf das Leben? Jedenfalls kann nicht allein die Nordseenähe Schuld sein, daß wir eine so verwässerte Identität offenbaren.

Dabei wäre es doch gerade beim harmlosen Thema Eislaufen nun wirklich nicht schwer, (in grundsätzlich kritischer Rückbesinnung) auf landestypische Traditionen zurückzugreifen. Drei Beispiele aus der hiesigen Literatur mögen genügen, die Augen für wiederbelebbare eigene Regionalidentität zu öffnen und Anregungen zu bieten, um aus einem importierten Spektakel wieder ein ursprünglich oldenburgisches zu machen.

Vor der Mitte des 19. Jahrhunderts – Der Seminaroberlehrer und Schriftsteller Emil Pleitner berichtet in seinen Wanderungen durch die Hausvogtei vom Oldenburger Winterbrauch:

Am Rande des Huntetals zieht sich der Weg hin, der uns von dem Tafelgute Donnerschwee zum „Roten Hause“ führt [ein ehemaliges Wirtshaus an der Straße Feldkamp, M.T.]. Das Rote Haus wird noch heute von den Städtern gern aufgesucht: es hat seinen alten guten Ruf durch die Jahrzehnte hindurch verwahrt. Ludwig Stra[c]kerjan beschreibt es uns, wie es in seiner Kindheit, also etwa um 1835, ausgesehen hat: ein niedriges Haus mit Strohdach [Schilfstroh, Reit, M.T.]. Ein Tanzsaal mit Pfannendach wurde erst später angebaut. Im Sommer gingen die Oldenburger gern zum Kegeln dahin hinaus; im Winter war es das Ziel der Schlittschuhläufer, die vom Stau aus – wo jetzt die „kleine Bahnhofstraße“ [Klävemannstraße, M.T.] ist, stieg man auf das Eis [vor der Huntebegradigung, M.T.] – die weite, blinkende Eisfläche überquerten, noch durch keinen Bahndamm gehemmt. Eine Zeitlang war beim „Roten Hause“ auch der Turnplatz des Gymnasiums. Die Primaner [Klasse 13, M.T.] suchten es gerne auf. Bemerkenswert ist ein Vorfall aus dem Jahre 1826, den Meinardus in seiner „Geschichte des Gymnasiums“ mitteilt: Der Rektor der Anstalt hatte seinen Primanern einen freien Nachmittag für das Schlittschuhlaufen verweigert, da ließ ihm die Prima kurz mitteilen, er brauche sich für den Nachmittag nicht zur Schule zu bemühen. Die ganze Klasse werde nach dem „Roten Hause“ fahren. Und so geschah es. Die kleine Geschichte, die so ungemein „modern“ anmutet, ist wohl wert, hier mitgeteilt zu werden. [...]
Aus: Emil Pleitner: Wanderungen durch die Hausvogtei Oldenburg, Kap. 4 – z.Z. in Bearbeitung durch Martin Teller.

* * *

1848/49 – eine „ausländische“ Schauspielerin aus Dresden beschreibt ihre Oldenburger Zeit:

[...] Der Winter kam. Sein rauher Atem formte aus dem flachen Lande eine einzige glitzernde Eisfläche, welche die Stadt Oldenburg einem Eilande im Eismeer ähnlich machte. Ha, nun wurde es lebendig auf der weitgedehnten Flur! In der Nähe der Stadt boten sich dem Auge echt holländische Eissportbilder. Hier liefen schon vor 37 Jahren die Damen in feiner Pelztoilette auf dem stählernen Schuh pfeilschnell über die blanke Eisbahn dahin, ein Genuß, den die launische Herrschaft der Mode den mittel- und süddeutschen Schwestern erst viel später überlieferte.
Ich kann nicht leugnen, daß ich die Eisfahrerinnen mit Neid betrachtete.
In Ermangelung der Eisfahrt auf eigenen Füßen nahm ich die Einladung meiner liebenswürdigen Wirtin, Frau von Bremen, an und beteiligte mich an einer Stuhlschlittenfahrt nach einem vielbesuchten Krug oder Gasthaus weit draußen in der Nachbarschaft der spiegelblanken Fläche [Donnerschweer Wiesen, H.L.].
Der ländliche Gasthof, der tief im Schnee hockte, zeigte auf der umfänglichen Tenne [„Diele“ heißt es norddeutsch, M.T.] den beliebten niedrigen Herd [offene Feuerstelle im Flett, M.T.], umgeben von Männern aus dem Volke, die sich am Torffeuer wärmten. Den Südwester tief im Nacken, saßen sie auf kleinen Schemeln und rauchten die holländische Tonpfeife. Die Männer verhielten sich so ruhig und würdevoll, als säßen sie einem Maler. Und draußen jagten dieselben Männer wie auf Flügeln die stundenweite Eisbahn dahin, mit gewaltigem Ruck vorwärts schießend, die Arme verschräkt, die Gestalt umflattert vom Mantel, der im Luftzug oder Sturm malerische Faltenwürfe bildete.
Leben und Bewegung, lustige Unterhaltung und Gelächter machte sich dagegen in den Zimmern der höheren Gesellschaft breit, die an den Tennen[Dielen]raum grenzten. Dort trank man stark gewürzten Wein, aß Berliner Pfannkuchen und rauchte so viel gutes und minder gutes Kraut, daß die spärlichen Talglichter, welche die Szene erhellten, wie Irrlichter aus Nebeldunst hervorschimmerten. Künstlerlungen und -Kehlen fühlten sich durch den Tabaksqualm in den kleinen niedrigen Räumen nicht angenehm berührt. Das Herannahen der Theaterstunde erlöste mich aus dem Dunst des Knasters und des Würzweins. Die alte Hofkutsche, welche die Bestimmung hatte, die Vertreter der größeren Rollen dem Musentempel zuzuführen, harrte schon vor meiner Tür. [...]
Aus: Hermann Lübbing (Hrsg.): Eine feine Stadt am Wasser Hunte, S. 179-180.

* * *

Zeit von 1893-1898 – der in Oldenburg geborene Philosoph Karl Jaspers erinnert sich an seine Jugend:

[...] Das Schlittschuhlaufen war eine Hauptfreude im Winter. Mein Vater lehrte es uns. Er selbst lief auf niedrigen Schlittschuhen mit langen Schnäbeln in einer von seiner Kindheit herreichenden Übung außerordentlich sicher in den großen Bogen unermüdet viele Kilometer weit. Wir konnten es ihm auf höheren Schlittschuhen ohne Schnäbel – auf denen das Laufen leichter zu erlernen war – nicht gleich tun, erlangten aber auch eine beträchtliche Fertigkeit im Bogenschneiden und langen Läufen. Damals kam es fast alle Jahre dazu, daß die Wiesen in der Hunteniederung jenseits Donnerschwee und Blankenburg meilenweit überschwemmt waren. Wenn dann einmal Frost ohne Schnee kam, so gab es eine vortreffliche Eisfläche. Es gehörte zu den schönsten Stunden, wenn wir auf dem weiten glatten Eise mit unserem Vater dahinflogen, oft weit getrennt und uns dann wiederfindend am Ziel, irgendeinem Wirtshaus, in dem „Heet und Söt“ getrunken wurde (ein gewärmtes Bier mit Zucker). Im Gefühl des Schwebens bei beträchtlicher Geschwindigkeit, nur den Elementen des Eises, des Lichtes und der Luft, des Windes und des Himmels überliefert, vertrauend auf die eigene, naturgewordene Geschicklichkeit, erfuhr man einen unvergleichlichen Genuß der winterlichen Welt. Diese Freiheit von aller Enge in der Mühelosigkeit einer freien Aktivität prägte durch ihr Symbolischwerden dem Daseinsbewußtsein einen Grundzug ein, der unvergeßlich ist. Erheblich gemindert wurde die Freude, wenn Schnee gefallen war. Dann wurden Schlittschuhbahnen gefegt, der Lauf war nun begrenzt oder vorgeschrieben. So war es auch zumeist in der Nähe der Stadt, wo wir abends nach der Schule auf den Teichen und Wiesen am Dobben (jetzt stehen dort die Ministerien) mit aller Welt uns trafen und bis in die Dunkelheit uns übten und unseren Lehrern ironisch zuschauten, wenn sie es nicht ordentlich konnten. Da versuchten wir wohl Kunststücke, genossen die Abendbeleuchtung, aber fühlten uns doch mehr gesellig als der Natur verbunden. [...]
Aus: Hermann Lübbing (Hrsg.): Eine feine Stadt am Wasser Hunte, S. 255-256.
 

Weite – Stille – Originalität – das ganze Gegenteil von dem, was sich derzeit auf der kleinen, engen laut beschallten Eisbahn vor dem Schloß abspielt. Warum geht man dann nicht lieber wieder auf die Huntewiesen? Weil die stadtauswärts gelegenen Polderflächen das meiste winterliche Überschwemmungswasser aufnehmen und in den immer wärmeren Wintern kaum noch größere Eisflächen dauerhaft gefrieren. Seit das Rote Haus abgebrochen wurde (heute befindet sich an seiner Stelle die Ausbildungsstätte der EWE), fehlen dort auch die traditionellen Möglichkeiten zum Aufwärmen. Da die nur kurz in Betrieb befindliche Oldenburger Eislaufhalle schon vor Jahren aufgegeben wurde, bleibt nur die künstliche Bahn auf dem Schloßplatz, die immerhin sehr zentral gelegen ist – falls man nicht auf die Idee kommt, für eine erweiterte Attraktion den Parkplatz bei der Weser-Ems-Halle zu fluten.

Wie man sieht, gibt es zweifelsohne durchaus beeindruckende originär-oldenburgische Wintertraditionen, die auf die eine oder andere Weise modifiziert auch in die heutige Zeit passen würden. Zusätzliche Gedanken darf man sich gerne machen: Wir wäre es z.B. mit organisierten Winteraktivitäten rund um den schon recht beachtlich aufgewachsenen Stadtwald beim Blankenburger Holz? Jedenfalls wäre man als norddeutscher Oldenburger in der Lage, dem Vorwurf „Keine Identität?“ ein lautes „Von wegen!“ entgegenzurufen. Freilich müßten einige erst noch wieder lernen, Oldenburger zu sein und nicht nur hier zu leben; indem sie sich stärker mit den hiesigen Entwicklungen auseinandersetzen, und das heißt vor allem: mit der für sie relevanten oldenburgischen Geschichte. Das gilt erstaunlicherweise auch für hier Aufgewachsene, in erster Linie aber wohl für Zugezogene, die in Politik, Verwaltung und Wirtschaft entscheiden dürfen und gewiß ihre fachlichen Belange verstehen, aber nicht immer die Be- und Empfindlichkeiten derjenigen Bevölkerung, die noch über eine lebendige Oldenburger Identität verfügt, weshalb auch nicht immer die richtigen Maßnahmen ergriffen werden.

Offensichtlich besteht der primäre Zweck der Tiroler-Eislauf-Veranstaltung aber darin, über Standmieten die Einnahmen der Stadt zu erhöhen; der sekundäre darin, wie es heißt „die Funktion als Oberzentrum zu stärken“ – indem man eine attraktiv sein sollende Veranstaltung anbietet, die unkritisches (weil bezüglich Geschichtsidentität weitgehend unbelastetes) Massenpublikum auch aus dem Umland anzieht, das wiederum hier ihr Geld ausgeben soll. Nach Fortfall der Bezirksregierung notwendigerweise die oberzentrale Funktion Oldenburgs zu stärken beinhaltet natürlich noch andere Aspekte als den reinen Geldverdienens. Doch die Absicht, Geld einzunehmen, ist an sich nicht verwerflich, man muß sie sogar ausdrücklich unterstürzen, weil die Hoffnung besteht, daß die Gewinne wenigstens zu einem kleinen Teil möglicherweise in Bereiche fließen, die sich langfristig als materiell wie ideell renditebringend erweisen werden. (Wäre es in der Vergangenheit stets so gewesen, säßen wir jetzt in der Stadt sowie bundesweit nicht auf einem Riesen-Schuldenberg und hätten Angst, daß unsere besten Leute abwandern, von daher dürfte die Skepsis berechtigt sein.) Insofern wäre dann der Ansatz, den Leserbrief beim Wort „Identität“ aufzugreifen, verfehlt, denn um Geld zu verdienen, braucht man keine ausgeprägte kulturelle Identität, da genügt eine rein kommerzielle. Vielleicht ist genau dies das gesellschaftliche Kernproblem: der gegenwärtige Primat des Wirtschaftlichen über Bildung und Kultur.

Es würde aber zu weit gehen und die Möglichkeiten eines Essays überschätzen, in Kürze die Oldenburger Identität retten und die kulturpolitischen Weichen neu stellen zu wollen. Ohnehin kann man niemandem die Mühe abnehmen, selbst über Schlußfolgerungen und eventuelle eigene Konsequenzen nachzudenken. Es obliegt darum den mündigen Oldenburgern zu bestimmen, ob sie eine regionale Kulturidentität für notwendig halten und wen sie zur Förderung ihrer Belange unterstützen wollen. Ein minimaler Konsens zum Thema Identitätsfindung wird sicher darin bestehen, die obigen Darstellungen des historischen Schlittschuhlaufes schön zu finden. Und wenn dieser heute nicht mehr möglich ist, dann fahren wir wenigstens Schlitten.

Martin Teller, 7.1.2006

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(Literatur zum Thema: Heinrich Schmidt: Von oldenburgischer Identität in Vergangenheit und Gegenwart, Vorträge des Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte, Heft 1, Oldenburg 1998.)


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