Die Quelle und ihre
Bearbeitung
Kriegszeugen
Der I.
Weltkrieg 1914-1918 wird oft als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“
bezeichnet, weil er in Europa letztlich unstabile politische und
wirtschaftliche Verhältnisse hinterließ, die zum II. Weltkrieg mit noch
mehr Tod und Zerstörung führten und zur ideologischen und realen Teilung
der Welt durch Kommunismus und Eisernen Vorhang. Auch nach dem
Wiederaufbau ab 1945 und weitgehender Überwindung der Teilung seit
1989/90 setzen die Folgen des I. Weltkriegs immer noch den
staatlich-politischen Rahmen unserer heutigen Welt. Ein Beispiel dafür
sind die erst nach Ende dieses Krieges entstandenen Nationalstaaten in
Osteuropa.
Eine solche Kriegskatastrophe (im Kern eine Katastrophe politischen
Unverstandes) hat überall und so auch im Oldenburger Land ihre Spuren
hinterlassen. – Weniger in den Städten und der Landschaft, die von vom
I. Weltkrieg kaum schon direkt geprägt wurden, vielmehr bei den
Menschen, den Familien, in den persönlichen Biographien. Überall künden
Denkmäler von zahlreichen Gefallenen und Vermissten nicht nur des II.
sondern bereits des I. Weltkriegs. Sie nennen viele Namen und Daten,
deuten die Einzelschicksale damit aber nur an. Was die verschiedenen
Soldaten erlebt haben, ob und wie die Zurückgekehrten das Geschehen
verarbeitet haben, hing außer von ihrer jeweiligen Persönlichkeit auch
vom Zufall ihrer Kriegseinsätze ab, von der Art ihrer Erlebnisse. Die
späteren Generationen erfahren in der Regel wenig darüber, falls nicht
familieninterne Erzählungen kursieren oder man zufällig noch auf
originale Kriegsaufzeichnungen gerade einfacher Soldaten stößt und damit
authentische Berichte aus erster Hand erhält.
Nun hatten diese Soldaten naturgemäß keinen Überblick über die
Geschehnisse wie von der „hohen Warte“ des Generalstabs aus, und weder
den zeitlichen noch den wissenschaftlichen Abstand, den wir
Nachgeborenen dank etablierter Forschung einnehmen können. Dafür sind
diese Berichte näher am Kampfgeschehen, geben die jeweilige Stimmung in
der Truppe unmittelbarer wieder und erweisen sich deshalb als wertvolle
und interessante Quellen, welche die offiziellen zeitgenössischen
Berichte um den Blickwinkel „von unten“ ergänzen. Selbst wenn sie erst
etwa 15 Jahre später schriftlich festgehalten wurden, wie im Falle des
Kavalleristen Gustav Ostendorf, der aus Brake in der Wesermarsch
im damaligen Großherzogtum Oldenburg stammte und einem hannoverschen
(preußisch geführten) Husarenregiment angehörte
Quellengeschichte
Solche
privaten Quellen gehen aber leicht schon innerhalb weniger Jahrzehnte
verloren oder können – wenn in alter deutscher Handschrift geschrieben –
später oft gar nicht mehr gelesen werden. Dann nützen sie überhaupt
niemanden etwas, falls ihre Besitzer sie nicht vorsorglich in moderne
Schrift übertragen, erschließen und veröffentlichen (lassen). Den ersten
Schritt dazu tat hier bereits der Sohn Helmut Ostendorf, der die
handschriftlichen Aufzeichnungen seines Vaters bis zum 26.11.1998
abgetippt und um einige klärende Formulierungen ergänzt hatte, damit die
Generationen der Enkel und Urenkel Zeugnis davon bekämen.
Fast genau 11 Jahre später am 28.11.2009 konnte der Bearbeiter den
nunmehr 83jährigen Sohn des WK I-Teilnehmers zum Leben seines Vaters und
zu dessen tagebuchähnlichen Kriegsaufzeichnungen befragen und auch die
Originalschrift zur eigenen Lektüre ausleihen, nachdem er bereits im
Sommer 2009 die geglättete Abschrift erhalten und schon diese
vollständig durchgesehen hatte. Die Vermittlung ist Frau Annemarie
Harich-Golzwarden zu verdanken, die mit Helmut Ostendorf zusammen in
Brake lebt und das fachliche Schaffen des Bearbeiters schon längere Zeit
freundschaftlich begleitet.
Gustav Ostendorf hat seine Kriegsbiographie in einem dunkelblauen
Pappumschlag aufbewahrt, beschriftet mit: „Verschiedenes für Heinrich
Ostendorf / Brake i.O.“. Ihre ursprünglichen Inhalte waren demnach
seinem etwa fünf Jahre jüngeren Bruder zugedacht, der aber schon lange
vor der Abfassung verstarb und darum nicht deren Adressat gewesen sein
kann. Nach Helmut Ostendorfs Vermutung sind seinem Vater die
Kriegserlebnisse immer wieder ins Gedächtnis zurückgekommen, so dass er
sich veranlasst sah, diese genauestens zu Papier zu bringen. Der Verlust
seines besten Freundes aus der Heimat sei besonders schmerzlich für ihn
gewesen. Vielleicht sah er auch einen weiteren Grund zum Schreiben in
der Politik der gerade regierenden Nationalsozialisten, die er zu Recht
der Kriegstreiberei verdächtigte, vielleicht wollte er auch deshalb die
Schrecken des modernen Krieges verdeutlichen. An welches Publikum er
sich genau richtete, wissen wir nicht, dürfen aber zumindest seine
Angehörigen annehmen. Eine Veröffentlichung war anscheinend nicht
vorgesehen.
Verfasst hat Gustav Ostendorf seine Kriegserinnerungen gegen 1933 (als
er 40 Jahre alt war) während ruhiger Dienststunden bei der Reichsbahn
auf dem Stellwerk 2 in Brake. Dabei stützte er sich anscheinend ganz
überwiegend auf sein Gedächtnis, sicher auch auf die spärlichen Angaben
in seinem erhalten gebliebenen Soldbuch. Manches hat er wohl den Büchern
über die Regimentsgeschichte entnommen, die seine früheren Offiziere
verfassten und die er bezog. Um welche es sich handelte, bleibt unklar,
denn sie sind von der Familie Ostendorf vor Jahrzehnten in ein
Antiquariat gegeben worden. Weitere noch während des Krieges verfasste
persönliche Notizen gab es anscheinend nicht.
Sohn Helmut, zu dieser Zeit noch ein Grundschüler, hat kaum mit seinem
Vater über dessen Kriegserlebnisse oder die Aufzeichnungen gesprochen,
sah ihn bei Besuchen auf dem Stellwerk aber einige Male spät abends oder
sonntags daran schreiben. Bei 46 handschriftlichen selbst
nachkorrigierten Textseiten dürfte sich die Abfassung über etliche
Monate hingezogen haben.
Nach dem frühen Tode des Vaters hat man den damals erst zwölfjährigen
Helmut Ostendorf informiert, im privaten Wandschrank seines Vaters im
Stellwerk seien noch Unterlagen. So sind diese ergreifenden
Kriegsaufzeichnungen eher beiläufig auf die Nachwelt überkommen, von
denen der Bearbeiter wiederum nur zufällig erfuhr. Weil es sich um eine
regionale Quelle von großer Anschaulichkeit handelt, die zudem
exemplarisch beide Fronten des mitteleuropäischen Kriegsraumes abdeckt,
lohnt es sich, sie detailliert zu bearbeiten und sie einer
geschichtsinteressierten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Helmut
Ostendorf sei an dieser Stelle für die Erlaubnis dazu gedankt.
Bearbeitungshinweise
Zur
Erschließung wurde ein tabellenförmiger Bearbeitungsrahmen – kenntlich
am weißem Hintergrund – über den Originaltext gelegt, der in der
Mittelspalte so vorlagengetreu wie per Textverarbeitung möglich
wiedergegeben ist. Grundlage ist Gustav Ostendorfs Urschrift, der
historische Originaltext (inklusive Schreib- und Zeichensetzungsfehlern,
die teilweise der zeitgenössischen Orthographie geschuldet sein mögen),
auch wenn etliche korrigierende Glättungen in der Abschrift des Sohnes
eleganter gewesen wären. Denn der umgangssprachliche wenngleich etwas
„holperige“ Originalton des Zeitzeugen wirkt authentischer und
unmittelbarer, so als spräche der damalige Soldat direkt zu den heutigen
Lesern. Er lässt uns an seinen persönlichen Erlebnissen sowie den
allgemeinen Zeitumständen teilhaben und offenbart dabei sein eher
biederes Wesen, das man unbesehen seiner politischen Einstellung
(national-konservativ) „besonnen“ nennen muss. Es gibt keinen
augenfälligen Grund, den Wahrheitsgehalt seines subjektiv verfassten
Berichtes anzuzweifeln. Man sollte aber nicht übersehen, dass Gustav
Ostendorf selektiv kürzt, sich an manches wohl nicht mehr erinnert und
an anderes (sicher besonders Unangenehmes) bewusst nicht erinnern will,
siehe seine Einlassung zum Stellungskrieg an der Westfront im September
1914. Auf wen er dabei Rücksicht nimmt, auf sich selbst oder seine
Leser, bleibt unklar.
Manche seiner Einlassungen verlangen freilich nach einer Erläuterung und
gelegentlich auch nach einer Korrektur. Um diese Ergänzungen des
Bearbeiters deutlich vom Originaltext abzusetzen, wurden sie wie in der
Geschichtswissenschaft üblich in eckige Klammern gesetzt [...]. Das
schließt auch manche als Lesehilfe gegebene zusätzliche Zeichensetzung
ein. Darüber hinaus erschienen allgemeine
zeithistorische und geographische Hinweise sinnvoll, die außerdem
in grüner Schriftfarbe abgesetzt sind, um
sie optisch noch deutlicher vom Urtext zu trennen und zugleich leichter
wiederzufinden. Das gelegentlich gesetzte lateinische sic =
„genau so, wirklich so“ weist auf vorlagengetreu wiedergegebene falsche
oder ungewöhnliche Schreibweisen oder Aussagen hin; auf letzteres auch
ein in Klammern gesetztes Ausrufungszeichen. Ein "gez.[eichnet]" wie in
Ostendorfs Unterschrift kennzeichnet normalerweise eine handschriftliche
Unterschrift in einem Drucktext und ist vielleicht schlicht den Vorlagen
der Regimentsbücher entnommen, was auch für die Art der Einleitung gilt.
Beides kann hier aber auch förmliche Feierlichkeit ausdrücken; im
Bewusstsein, der Nachwelt ein Zeitzeugnis hinterlassen zu haben.
Ortsnamen hat der historische Autor zumeist in (heute üblicher)
lateinischer – hier kursiv wiedergegebener – Schreibschrift
geschrieben, um sie gegenüber der seinerzeit gebräuchlichen deutschen
Kurrentschrift hervorzuheben. (Welche nicht mit dem ähnlichen
Sütterlin gleichzusetzen ist, eine reine Kunstschrift, die vom
Berliner Pädagogen und Graphiker Ludwig Sütterlin entworfen wurde und
Grundlage der an den deutschen Schulen von 1915 bis 1940 verwendeten
Schreibschrift war. Die alte deutsche Handschrift war dagegen schon in
der Frühen Neuzeit im Gebrauch.) Die genannten noch von der deutschen
Ostsiedlung geprägten Ortsnamen entsprechen zum Teil nicht mehr den
heutigen, z.B. Windau (im Kurland) = Ventspils (heute in Lettland). Nur
bei manchen Städten wurde in der Bearbeitung der moderne Name
dazugesetzt, die anderen mögen die Leser mit den Schreibweisen der
modernen Atlanten vergleichen.
Wie aus den beigefügten Fotos der Handschrift zu sehen ist, hat Gustav
Ostendorf selbst fast gar keine Absätze gemacht. Zum leichteren Lesen
hat Helmut Ostendorf deshalb in seiner Abschrift zahlreiche eigene
Sinnabschnitte gesetzt, die in der hiesigen Bearbeitung fast ausnahmslos
übernommen wurden. Die starke optische Textunterteilung ist also ein
gewolltes Nebenergebnis der Bearbeitung, wobei nur die Einteilung in
Manuskriptseiten dem Original entspricht, siehe die unterstrichenen
Seitenzahlen. Einige neue Absätze sind aus technischen Gründen durch die
Gliederungen der Außenspalten hinzugekommen.
Der Originaltext ist auf lose Doppelbögen wohl mit einem Kopierstift
geschrieben, zum Teil mit bläulichem Schriftbild, sonst bleistiftgrau.
Die Größe der beiden Seiten der Doppelbögen, die bis einschließlich
Seite 28 ineinander gelegt und danach einfach angefügt sind, beträgt
jeweils 21 x 33,5 cm, was unserem DIN A4 nahekommt (21 x 29,7 cm). Die
Seiten enthalten keine Hilfsschreiblinien, wohl aber Wasserzeichen; das
linke Blatt in Großbuchstaben immer: „REICHSADLER CANZLEI“, das rechte
stets ein aufwendiges Adlerwappen mit Krone und Brustschild, der wieder
einen Adler enthält. Das Qualitätspapier und der mutmaßliche Kopierstift
deuten darauf hin, dass dem Autor seine Aufzeichnungen wichtig waren und
er um ihren dauerhaften Erhalt bemüht war.
Die seitlichen Spalten der Bearbeitungstabelle dienen der näheren
Texterschließung (exemplarisch für Schüler und Studenten), ihre Inhalte
stammen ausschließlich vom Bearbeiter. Rechts werden die Textabschnitte
zum leichteren Überblick sinngemäß zusammengefasst sowie die gesamten
Kriegsereignisse in subjektiv erlebte Feldzüge des Husaren Ostendorf
gegliedert. Die linke Spalte gibt in den Aufzeichnungen genannte bzw.,
in eckigen Klammern stehend, daraus erschlossene Datierungen wieder und
erleichtert damit die zeitliche Orientierung. Wenn man den Originaltext
vor Augen haben will, kann man die kenntlich gemachten Zusätze leicht
abziehen. Vom Bearbeiter stammen: a) die blauunterlegten
Überschriftsfelder der Tabellen, b) beide Außenspalten, c) in der
mittleren Textspalte die in eckigen Klammern stehenden
Anmerkungen/Hinweise in schwarzer oder grüner Schriftfarbe, und d) die
weißunterlegten Querfächer mit den ergänzenden Bildquellen.
Die dortigen Kriegskarten entstammen einem
zeitgenössischen Geschichtsatlas (F.W. Putzgers Historischer Schul-Atlas
zur Alten, Mittleren und Neueren Geschichte in 324 Haupt- und
Nebenkarten. Bearbeitet und hrsg. von Alfred Baldamus, Ernst Schwabe und
Julius Koch. 41. Auflage, Bielefeld und Leipzig, 1918.) Darin
eingetragen hat der Bearbeiter die Kriegszüge und Truppenverlegungen, an
denen Gustav Ostendorf teilgenommen hatte, soweit die genannten Orte
lokalisierbar bzw. die Verläufe rekonstruierbar waren. Dies erleichtert
gewiss die örtliche Orientierung auf den ausgedehnten Schlachtfeldern
des I. Weltkriegs und zeigt das ungefähre Bewegungsprofil des
Kriegsteilnehmers. Die Unterteilung der Feldzüge, die Gustav Ostendorf
miterlebt hat, entspricht der in der rechten Spalte vorgenommenen
Gliederung.
Biographische
Angaben
Einige
biographische Hinweise können unseren Eindruck von Anton Reinhard Gustav
Ostendorf ergänzen. Am 5.11.1893 wurde er als mittleres von drei Kindern
in einer Bahnbeamtenfamilie geboren. Er hatte eine ältere Schwester und
einen Bruder, den erwähnten Heinrich. Sein Geburtsort Hammelwarden war
damals noch eine selbständige Gemeinde südlich der Stadt Brake und ist
heute deren Stadtteil. Gustav Ostendorf besuchte die Volksschule und
absolvierte eine Lehre im Bereich der Landwirtschaft, für die er sich
zeitlebens begeisterte. Gemäß seinen Aufzeichnungen diente er von 1912
bis 1919 als Husar und stand während der ganzen Kriegszeit fast
permanent im Felde. Am 27.5.1922 heiratete er die Kriegswitwe Johanne
(Hanni) Holen geb. Meyer, die einen Sohn in die Ehe brachte, und hatte
mit ihr einen weiteren Sohn, Helmut, und zwei jüngere Töchter. Nach
seiner Militärzeit konnte Gustav Ostendorf als ehemaliger Soldat
Bahnarbeiter werden, Weichensteller und Schrankenwärter auf den drei
Stellwerken in Brake (Nr. 1 beim Bahnhof an Bahnsteig 2, Nr. 2. am
Bahnübergang Neustadtstraße, Nr. 3 nahe Bahnübergang Weserstraße am sog.
Rangierbahnhof). Mitglied des deutsch-nationalen Stahlhelm-Bundes wurde
er „aus Halbzwang“, wie Helmut Ostendorf berichtet, da den ehemaligen
Frontkämpfern unter den Staatsbediensteten nahegelegt wurde, dort
einzutreten. Ehe nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933
die Angehörigen des Stahlhelm geschlossen in die SA übergeführt wurden,
erbat sich Gustav Ostendorf einen ehrenvollen Austritt wegen seines
unregelmäßigen Dienstes bei der Reichsbahn. Mit den Nazis hatte er
nichts im Sinn, profitierte gleichwohl von deren Förderung der
Frontsoldaten, indem sie ihn recht spät noch verbeamteten. Er verstarb
schon am 28.7.1938 an einem Lungenabszess, einen Tag nach einer
Operation im Krankenhaus in Nordenham, und ist nur 44 Jahre und 8 Monate
alt geworden
Helmut
Ostendorf charakterisiert in seiner privaten Familienchronik von 1999
seinen Vater folgendermaßen: Natürlich konnten unsere Eltern zu Haus
auch [...] fröhlich und lustig sein, wenn es dafür einen guten
Grund gab. Doch aus heutiger Sicht meine ich, sie waren eher nüchtern,
sachlich und diszipliniert. Die Lebensverhältnisse boten in den Jahren
auch nur wenige Gelegenheiten zu großer Freude und Lustigkeit. Papas Art
entsprach mehr der militärischen Disziplin und Ordnung, die er während
seiner Dienstzeit bei den Wandsbecker Husaren vor dem 1. Weltkrieg
erfahren hatte.
Hier folgend einige Beispiele, die aber bitte nicht zu ernst genommen
werden sollten:
1. Beispiel: Wir Kinder wurden von Anfang an streng im Sinne von
Ordnung, Sauberkeit und Selbständigkeit erzogen. Jedes hatte auf seine
Sachen selbst zu achten und diese zu pflegen. Papa durfte nicht sehen,
wenn unsere Mutter eingriff und uns die Arbeit abnahm.
2. Beispiel: Karl-Heinz [Helmuts Bruder, M.T.] und ich teilten
uns eine Schlafkammer oben im Haus. Wenn Papa abends an unsere
Schlafzimmertür trat, um uns „Gute Nacht“ zu wünschen und wir nicht
sofort danach unsere Unterhaltung einstellten, dann erscholl sein
Kommando: „Ruhe, Gesicht zur Wand“! Auf diese Weise wurde meine
Schlafseitenlage auf rechts und die meines Bruders auf links
programmiert.
3. Beispiel: Eines Tages ernteten wir auf dem Acker an der Bahn
Kartoffeln, als plötzlich eine Junkers 52 mit dröhnenden Motoren und
aufgemalten eisernen Kreuzen an Rumpf und unter den Tragflächen sehr
niedrig in Richtung Weser über uns hinweg flog, da glänzten Papas Augen
und er meinte: „Nach der Schmach von Versailles wird jetzt auch
Deutschland wieder als gleichgestellte Nation in der Welt anerkannt
werden!“ Auf Grund seiner Erfahrung im Weltkrieg 1914-1918 und in der
Nachkriegszeit wünschte er sich die Wiederherstellung eines politisch
und militärisch gleichgestellten deutschen Reiches. Er betonte jedoch,
dieses Deutschland dürfe dann nicht unter einer national-sozialistischen
Führung stehen, denn die würde mit ihrem Kurs in einen neuen Krieg
steuern. Ein Krieg mit den heutigen moderneren Waffen hätte verheerende
Auswirkungen für ganz Europa. Er fügte hinzu, daß er einen solchen Krieg
auch nicht mehr erleben möchte. [Er starb dann ja auch „rechtzeitig“
ein Jahr vor Ausbruch des nächsten Weltkrieges, M.T.]
Wie richtig seine Einschätzung der politischen Zukunft Deutschlands
und Europas und seine Vorahnung sein sollten, konnte er selbst wegen
seines frühen Todes nicht mehr erleben.
Gustav
Ostendorf wohnte mit seiner sechsköpfigen Familie in einem von seinen
Schwiegereltern ererbten kleinen Haus in der Hayessenstraße in
Brake-Klippkanne. Diese Straße gibt es heute nicht mehr, da der ganze
Ortsteil durch Küstenschutz, Straßenneubau, Konversion von
Marineeinrichtungen, sowie Ausbau und Sicherung des Hafengeländes im
Zuge der Terroristenabwehr umgestaltet worden ist. Das Haus stand direkt
neben dem Braker Siel. Das sollte sich als verhängnisvoll für den bis
Ende des II. Weltkriegs erhaltenen Exerziersäbel des Gustav Ostendorf
erweisen. Als die Amerikaner Brake (die Weserufer bis Bremen) gerade
besetzt hatten, warf Frau Ostendorf den Säbel rasch vom Dachboden aus in
den Siel, weil sie Angst hatte, eine Waffe im Haus zu haben. Dabei
hätten die Besatzer in einer mittlerweile historischen Stichwaffe zumal
in den Händen einer Witwe und vierfachen Mutter sicherlich keine solche
Gefahr gesehen wie etwa in einer modernen Schusswaffe.
Der in den
Kriegsaufzeichnungen erwähnte Braker Bekannte Hans Golzwarden ist
zufälligerweise der Patenonkel der heutigen Lebensgefährtin von Gustav
Ostendorfs Sohn. Jener war Schlachter im selben Regiment wie Gustav
Ostendorf. Der hat ihn schon an der Westfront in Frankreich
wiedergetroffen, was er im „Tagebuch“ nicht verrät, und war später sein
Trauzeuge. Wie Helmut Ostendorf mitteilt, hatte sein Vater seinen ersten
Heimaturlaub aus dem Felde (entgegen dessen Angaben um 1915/16) bereits
von der Westfront aus antreten können. Wann genau ist unbekannt, wird
aber nicht vor Ende September 1914 möglich gewesen sein.
In den Biographien von Vater und Sohn gibt es auffallende
Parallelitäten: Helmut Ostendorf war Kriegsteilnehmer im II. Weltkrieg,
ebenfalls an der West- und an der Ostfront eingesetzt, war wie sein
Vater bei Kriegsanfang zuerst Gefreiter und wurde dann zum Unteroffizier
befördert, kam auch ins Baltikum in dieselbe Gegend südöstlich von Riga
(nach Dünaburg), und hat nach Kriegsende später als Beamter u.a. in
Brake gearbeitet; nicht bei der Bahn freilich, sondern als
Hauptkommissar bei der Wasserschutzpolizei. Sein Wort mag daher dem
Empfinden seines Vaters entsprechen, wenn er über sich und seine
Kriegskameraden unspektakulär sagt: „Wir waren keine Helden.“ Dieser
Satz ist ein deutlicher Kontrapunkt zu allen abenteuerlich erscheinenden
Kampferzählungen, bei denen man aber nie die „Hintergrundmelodie“ realer
Todesangst vergessen darf, auch wenn für einige Soldaten wie Gustav
Ostendorf alles gerade noch gut ausging. Er hat großes Glück gehabt,
dass in seiner persönlichen Kriegsgeschichte zum Schluss das Eiserne
Kreuz steht, und nicht ein einfaches Holzkreuz über einem Grab in der
Fremde.
Besonderheiten und Allgemeines
Eingangs
wurde festgestellt, dass es von der Art der Erlebnisse abhängt,
inwiefern persönliche Kriegserinnerungen das eigene weitere Leben
prägen. Bei Gustav Ostendorf, der an der Westfront und an der Ostfront
eingesetzt war, als Frontkämpfer und als Landesbesatzer erstaunlich weit
herumgekommen ist, und der Eindrücke aus recht verschiedenen Bereichen
dieses Krieges gewonnen hat, blieb oberflächlich gesehen die
militärische Disziplin als prägender Charakterzug, unterschwellig deuten
sich Traumata an – persönliche (der gefallene Freund, Grabenkämpfe) und
kollektive (verlorener Krieg, Diktatfrieden).
Unterschiedliche Auswirkungen können wir bereits im „Selbstversuch“ beim
bloßen Lesen fremder Kriegserlebnisse feststellen, denn sicherlich
werden uns verschiedene Textstellen tiefer berühren, während wir über
andere rascher hinweggehen. Aus solchen Beobachtungen können sich
allgemeingeschichtliche Fragestellungen entwickeln, die über das
Einzelerlebnis hinausgehen. Das Reflektieren über individuelle
Beobachtungen führt im Idealfall zum historischen Hineinversetzen in
eine vergangene Epoche. Dies ist es letztlich, was jegliches
Geschichtslernen bezwecken soll, abgesehen vom Vermitteln ganz konkreter
Geschichtskenntnisse.
Beispielhaft folgen hier verschiedene weitere Gedankenansätze des
Bearbeiters, zu denen die Leser ihre eigenen stellen mögen:
|
Zwischen Gustav Ostendorfs
Zeilen scheint ein emotionales Verhältnis der Kavalleristen zu
ihren Pferden durch, in denen sie offenbar keineswegs seelenlose
„Kampfinstrumente“ sahen: Erst wurden die Pferde versorgt, dann
die Reiter (wie man es im Reitsport heute noch lehrt). Einem
geraubten „verdienten“ Schwadronspferd trauern die Soldaten
hinterher, als wäre ein menschlicher Kamerad zurückgeblieben. Ob
dies in allen Epochen aller Kulturen so war?
|
|
Das führt den Bearbeiter –
selbst „gelernter Reiter“, dessen Urgroßvater
väterlich-väterlicherseits im I. Weltkrieg ebenfalls als
Reitersoldat, als Ulan, an der Ostfront gekämpft und an der
Schlacht bei Tannenberg teilgenommen hat, die den Vormarsch der
Russen in Ostpreußen stoppte – zu der anstrengenden Frage nach
der Eigenmotivation von Fachleuchten und Laien, sich speziell
mit Kriegsdarstellungen und allgemein mit Geschichte zu
beschäftigen: wissenschaftliche Neugier, Interesse an bestimmten
Epochen oder konkreten Fällen, biographische Traumabewältigung,
Wunsch nach interpretatorischem Eingreifen, Identifikation mit
einzelnen Geschichtspersönlichkeiten, geistreiche bzw. spannende
Unterhaltung aus „sicherer Ferne“, Flucht in überschaubare
Welten – oder nicht auch immer Suche nach den eigenen und
gesellschaftlichen Wurzeln, letztlich nach Sinn?
„Ohne Vergangenheit keine Zukunft“, heißt es. Menschen, die
unfall- oder krankheitsbedingt unter Gedächtnisverlust leiden
und keinen Zugang mehr zu ihrer eigenen früheren
Lebensgeschichte bekommen, sollen mitunter große Probleme haben,
ihr weiteres Leben zu gestalten – was die Bedeutung von
Geschichte unterstreichen dürfte. |
|
Wiederum ganz andere
Aspekte bringt der verzweifelte Versuch des Reitersoldaten gegen
Kriegsende, Russland unter Lebensgefahr so schnell wie möglich
zu verlassen, und das zum Teil gar als „Fußgänger“: historische
Parallelen, menschliche Tragik und zeitlose Komik. Man fiebert
geradezu mit, ob Gustav Ostendorf es noch rechtzeitig schafft
(und weiß es doch, denn sonst hätte er seine Aufzeichnungen
nicht schreiben können). Es mutet geradezu tragikkomisch an,
wenn er irgendwo in den russischen Weiten, jeweils 580 km
Luftlinie entfernt vom deutschen Danzig im Westen und Moskau im
Osten!, nicht auf schnellstem Wege nach Kaplanki sondern
umständlich nach Kaplanza gefahren wird. Statt eines Flohhüpfers
vorwärts eine Schneckenlänge rückwärts.
Der deutsche Rückmarsch des I. Weltkriegs erinnert an Napoleons
verlustreichen Russlandfeldzug – ein Vergleich, den Gustav
Ostendorf selbst zieht – und natürlich an den deutschen Rückzug
im II. Weltkrieg. Thematisch passend ist auch der Roman und Film
„So weit die Füße tragen“, der die Flucht eines deutschen
Gefangenen aus Russland im letztgenannten Krieg erzählt, oder
die Zeile aus einem ironischen Lied über Spionage im letzen
Jahrzehnt des Kalten Krieges: „Sie haben fünf Minuten Zeit, zu
Fuß die Taiga zu verlassen, / sagten mir die Russen, da begann
ich, sie zu hassen.“ |
|
Darüber hinaus kann man
sich, angestoßen durch die vorliegenden Kriegsaufzeichnungen, in
analytische Vergleiche und geschichtsphilosophische Fragen
vertiefen. In einem waren sich I. und II. Weltkrieg aus
deutscher Sicht gleich: Unsere Vorfahren haben ihn stets
hauptsächlich auf den Fronten verloren, die den jeweils
Herrschenden militärisch/ideologisch am wichtigsten waren: im I.
Weltkrieg gegen den „Erbfeind“ Frankreich im Westen, im II.
Weltkrieg beim Versuch, „Lebensraum im Osten“ zu gewinnen.
Inwieweit nicht schneller Zugriff auf fremde Territorien, nicht
einmal auf deren Rohstoffe, grundlegend das Überleben eines
Volkes sichert, sondern Friede nach außen, internationaler
Austausch und Handel, demokratische Machtausbalancierung,
innerer sozialer Friede, persönliche Freiheit, um
kontinuierlichen Ausbau von Bildung, Wirtschaft, technischem
Fortschritt (Ernährung, Medizin) zu ermöglichen, bzw. inwieweit
dies vielleicht Illusionen sein mögen, kann z.B. schon im
schulischen Geschichtsunterricht trefflich diskutiert werden,
soll hier aber ebenfalls nur kurz angerissen werden, um den
Aspekt der Unterhaltung (s.o.) nicht überzustrapazieren.
|
Man sieht,
in welch verschiedene Richtungen einfache Aufzeichnungen eines einfachen
Soldaten untersucht werden können. In erster Linie sind sie gleichwohl
ein regional-oldenburgischer Beitrag zur weltweiten Kriegsdokumentation,
können aber auch als Facette der Oldenburger Militärgeschichte begriffen
werden, die Bestandteil der umfangreichen deutschen Kriegsgeschichte
ist.
Martin Teller,
Oldenburg den 1.3.2010
|